Die schöpferische Kraft des Ich

Die schöpferische Kraft des Ich

Künstlerische Mittel in der Biografiearbeit

 

Auferstehung
Manchmal stehen wir auf
Stehen wir zur Auferstehung auf
Mitten am Tage
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvoller Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.

Marie Luise Kaschnitz¹

 


Einleitung

Erlebnisse und Erfahrungen, die sich in ihrer Flüchtigkeit und Vielschichtigkeit der bloßen Beschreibung entziehen, können mit künstlerischen Mitteln erfasst und zum Ausdruck gebracht werden. Das Gedicht von Marie Luise Kaschnitz, das diesem Text vorangestellt ist, kann ein Beispiel dafür sein, wie mit künstlerischen (hier poetischen) Mitteln ein Erlebnis umfasst werden kann.²
Auch wenn nur wenigen die Fähigkeiten einer Marie Luise Kaschnitz gegeben sind, so können sich doch alle der künstlerischen Mittel bedienen. Denn die Kreativität, der Drang das eigene Erleben und die Welt künstlerisch aufzufassen, sind menschliche Eigenschaften. „Wir bringen uns allerdings oftmals das künstlerische Erleben, das unser Leben, unser Dasein zwischen den Zeilen begleitet, nicht zum Bewusstsein.Es lebt ziemlich unter der Schwelle des Bewusstseins.“³ Redewendungen wie z.B. „hier ist dicke Luft“ oder „sie war ein Fels in der Brandung“ können ein Beispiel sein für diesen menschlichen Drang, die Welt (und sich selbst) künstlerisch aufzufassen. Ebenso bringen Redewendungen wie „Ich könnte Bäume ausreißen“ oder „Mir steht das Wasser bis zum Hals“ innere Gestimmtheiten in Bilder.

„Es gibt etwas, was im Grunde der Seele lebt als ein Grundton. Ich will (…) nichts anderes sagen, als dass ein ästhetisches Gefühl da ist, auch wenn wir es uns nicht zum Empfinden bringen, welches wir nicht ausschließen können: es hängt unsere Stimmung davon ab; wir sind gut oder schlecht gestimmt.

Die gute oder schlechte Stimmung kennen wir, aber die Gründe kann sich nur der zum Bewusstsein bringen, der auf die Dinge näher eingeht. Darin liegt eigentlich das beschlossen, was man die Notwendigkeit nennen könnte, überzugehen vom naturgemäßen ästhetischen Empfinden zum Leben in der Kunst.“4
Mit Hilfe der künstlerischen Betätigung in der Biografiearbeit kann das künstlerische Erleben, das unser Leben zwischen den Zeilen begleitet über die Schwelle des Bewusstseins gehoben werden. So wird es möglich, das, was zunächst nur in einer Körperempfindung (z.B. Herzklopfen) oder in sympathischer oder antipathischer Resonanz empfunden wird (es geht mir gut – es geht mir schlecht), zu betrachten, zu verstehen und zu handhaben.5

„Biografiearbeit zielt auf eine tätige Selbsterkenntnis, die danach fragt: ‚Wer bin ich meinen Möglichkeiten nach?‘, ‚Welche Kraftquellen enthält mein Schicksal, und welchen Einschränkungen unterliegt es? Und wie kann ich beides aktiv in die Hand nehmen?‘“6 Diese tätige Selbsterkenntnis hat das Motiv und das Ziel, sich (wieder oder besser) aktiv mit der Welt zu verbinden. Nach meiner Erfahrung kommen Menschen gerade deshalb in die Biografieberatung, weil sie erleben, dass ihnen diese Verbindung zur Welt nicht „richtig“ gelingt. Ihre tiefe Sehnsucht ist es, das eigene Leben Ich-gemäß und Welt-gemäß zu gestalten.
Wesentliche Elemente der tätigen Selbsterkenntnis sind die phänomenologische Betrachtung,7 das Beleuchten und Bewegen der Themen im gemeinsamen Gespräch, die individuellen Übungen im Alltag und die künstlerische Aktivität. Denn „mit den abstrakten Gedanken kann man nichts über das innere Wesen der Dinge erfahren.“8 Wohl aber mit einer Haltung, die sich darum bemüht, mitzudenken, mitzufühlen und mitzuwollen. Denn, wie der japanische Philosoph Kitarō Nishida (1870 – 1945) sagt: „Wissen und Liebe sind die gleiche mentale Aktivität. Um ein Ding zu kennen, müssen wir es lieben, um ein Ding lieben zu können, müssen wir es kennen. Liebe ist die Kraft, durch die wir die ultimative Realität begreifen. Liebe ist die reifste Form von Wissen um die Dinge.“9

Im Folgenden werden einige künstlerische Arbeitsweisen vorgestellt, die dazu dienen können, mehr über „das innere Wesen“ eines Lebensweges zu erfahren.
Das Erfahren hat dabei sowohl eine Erkenntnis- als auch eine Erlebnisseite. Wenn man ein Thema (z.B.ein biografisches Ereignis) künstlerisch bearbeitet, kann man seine tieferen Schichten erkennen; dies bezeichne ich als die Erkenntnisseite des Erfahrens. Zugleich erlebt man sich selbst und den Prozessverlauf im künstlerischen Tätigsein, das bezeichne ich als die Erlebnisseite des Erfahrens.
Bei genauerer Betrachtung kann man entdecken, dass diese beiden Dimensionen des Erfahrens, das Was und das Wie, sich nicht nur gegenseitig beeinflussen, sondern auch übereinander Auskunft geben können. Dazu mehr im Abschnitt „Die Tätigkeit der Betrachtung“.

Indem man sich auf künstlerische Weise (sowohl im Ausdruck als auch in der Betrachtung) um Erkenntnis- und Erlebnisgewinn bemüht, übt und stärkt man zugleich die schöpferische Kraft des Ich10. Je kräftiger das Ich, desto freier kann es sich mit der Welt d.h. den Menschen, denen man begegnet und den Aufgaben, die man übernimmt, verbinden.11

Die künstlerische Tätigkeit in der Biografiearbeit wird im Folgenden anhand einiger Beispiele betrachtet und dargestellt.

 


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